Den geplagten Abiturient:innen und allen anderen, die bei der Aufgabe das Gefühl haben, selbst im Nebel unterwegs zu sein, sei zur Ermutigung noch ein Zitat aus Jan Wagners Essay »Gedenke der Lücke - Eine Rede für Abiturienten«, erschienen in »Der verschlossene Raum« (Hanser Berlin, 2017) mit auf den weiteren Lebensweg gegeben:
»Der englische Romantiker John Keats prägte den Begriff der negative capability, der, so könnte man es übersetzen, negativen Befähigung, als eine Grundtugend des Dichters, aber nicht nur des Dichters, und das heißt: zu akzeptieren, dass nicht alles mit Eindeutigkeit zu einem gedanklichen Ende geführt werden kann oder sollte. Es heißt: sich den Zweifel erhalten und die Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Möglichkeiten, sich in der Unsicherheit einzurichten.«
Jan Wagner in seinem Essay »Gedenke der Lücke. Eine Rede für Abiturienten«
Außerdem ist in besagtem Essay diese Passage zu finden:
»In einem wiederkehrenden Traum – ich sollte besser sagen: Albtraum, weist er doch alle Merkmale eines solchen auf, dazu die physischen Phänomene wie Herzrasen, Gliederzucken und kalte Schweißausbrüche –, in einem wiederkehrenden Traum also finde ich mich unvermittelt in meinem ehemaligen Gymnasium in einer Kleinstadt nördlich von Hamburg wieder. Die Räume sind erschreckend vertraut, die gebohnerten Gänge, die Tafeln, der Pausenhof, die Fahrradständer, sogar, scheint mir, der Geruch, auch wenn, denke ich kurz, Träume doch für gewöhnlich geruchlos sind, alles ist ganz so, wie es damals war – nur ich bin so alt, wie ich mittlerweile eben bin, und damit den Schülern, mit denen zusammen ich zu meiner Verblüffung in einem der Klassenzimmer Platz nehme, um ein Vierteljahrhundert voraus. Keines der Jahre, die seit meiner Schulzeit vergangen sind, ist gelöscht, ich habe auch im Traum in Hamburg, Dublin und Berlin studiert, einen Abschluss gemacht, habe eine Reihe von Büchern publiziert und bin als freier Lyriker tätig, verdiene mein Brot – nur entbehre all das, so teilt man mir im Traum bedauernd mit, jeder Grundlage, sei doch mein Abitur und damit alles, was darauf folgte, ungültig; ein Versehen, eine bürokratische Laune, ein Aktenfehler, für den niemand etwas könne, weder ich noch die Verwaltung, an dem aber nicht zu rütteln sei, kurz: ich müsse die Oberstufe wiederholen und, fünfundvierzig Lebensjahre hin oder her, mein Abitur noch einmal bestehen.«
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